Mit Wert & Wirkung bieten wir einen wissenschaftlich fundierten Kompass für die Debatten unserer Zeit an. Diesmal erklären wir, warum wir Investitionen in die Zukunft nicht als Schulden begreifen sollten – und wie wir durch eine Reform der Schuldenbremse die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands stärken können.
In der Politik überschlagen sich die Ereignisse: Erst wird am 6. November klar, dass Donald Trump erneut Präsident der USA wird. Und dann zerbricht auch noch die Ampel-Koalition, als Bundeskanzler Olaf Scholz vor die Presse tritt und Finanzminister Christian Lindner entlässt, „um Schaden von unserem Land abzuwenden“. Der Bruch war absehbar – schwelte der Streit doch schon seit Monaten. Doch anstatt über die Ursache des Zerwürfnisses zu sprechen, dreht sich die öffentliche Debatte im Kreis und um nur eine Frage: Wer trägt die Schuld am Koalitions-Aus?
Dabei gerät der eigentliche Streitpunkt aus dem Blick: die Schuldenbremse. Nach dem Karlsruher Urteil über die Umwidmung der Corona-Mittel klafft ein 60-Milliarden-Euro-Loch im Haushalt. Die Frage, ob die Schuldenbremse ausgesetzt oder grundlegend reformiert werden sollte, entfachte heftige Kontroversen. Auch in der Ampel-Koalition. Ein Plan B war nicht in Sicht.
Aber ist die Schuldenbremse in einer Zeit multipler Krisen noch zeitgemäß – oder bremst sie unsere Zukunft aus?
Worum geht es eigentlich?
Seit über 15 Jahren ist die Schuldenbremse mittlerweile im deutschen Grundgesetz verankert, beschlossen wurde die Grundgesetzänderung im Mai 2009 – inmitten der globalen Finanzkrise. Ihr Ziel: die Finanzlage von Bund und Ländern durch strenge Neuverschuldungsgrenzen zu stabilisieren, seitdem darf der Bund nur noch Nettokredite in Höhe von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufnehmen. Tatsächlich konnten Bund und Länder seitdem Schulden abbauen. Doch ob dies vor allem an der Schuldenbremse liegt, wird seit ihrer Einführung kontrovers diskutiert.
Auf den ersten Blick mag das Thema abstrakt wirken, doch die Auswirkungen spüren wir fast überall in unserem Alltag: Weil die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen nicht ausreichen, werden Gelder für Sanierungen von Schulen, Kitas, Brücken oder Investitionen in den Klimaschutz gekürzt oder vertagt. Ein Beispiel: Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden, der die finanzielle Misere der Kommunen deutlich machte. Nach Angaben des Deutschen Städte- und Gemeindebundes verliert die öffentliche Infrastruktur kontinuierlich an Wert – im Schnitt 13 Millionen Euro pro Tag.
Die Konsequenz: Die politische Handlungsfähigkeit wird eingeschränkt. Verfechter der Schuldenbremse argumentieren, dass der Sparkurs künftige Generationen vor übermäßiger Verschuldung schützt. Kritiker hingegen warnen, dass fehlende Investitionen die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft gefährden.
Aber wie denkt die deutsche Bevölkerung darüber? Eine Umfrage aus 2023 zeigt ein differenziertes Bild. Zwar plädieren 62 Prozent der Befragten für einen Schuldenabbau, doch fast ebenso viele (59 Prozent) befürworten Kredite, wenn diese für Zukunftsinvestitionen genutzt werden. Dieser scheinbare Widerspruch zeigt: Schulden werden zunächst zwar oft kritisch gesehen, aber akzeptiert, wenn sie greifbare Vorteile für die nächsten Generationen schaffen.
Was passiert, wenn wir weitermachen wie bisher?
In einer Zeit multipler Krisen brauchen wir neue Antworten. Doch die strenge Austeritätspolitik nach der Finanz- und Wirtschaftskrise behindert einen dringend notwendigen Wandel: Die Schuldenbremse nimmt dem Staat die Fähigkeit, flexibel auf Krisen und volkswirtschaftliche Herausforderungen zu reagieren. Damit werden wichtige Maßnahmen in konjunkturell schwierige Zeiten verschleppt, während gleichzeitig verhindert wird, dass Bund und Länder proaktiv in Infrastruktur, Bildung, Soziales und unsere Lebensgrundlagen investieren.
Die Folgen werden von Jahr zu Jahr sichtbarer: Straßen, Brücken und Fahrradwege sind marode, Schulen überlastet und energetische Sanierungen und der Ausbau der Schieneninfrastruktur gehen zu langsam voran. Damit drosselt die Schuldenbremse Investitionen und gefährdet Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand – wie ein aktuelles Ranking zeig.
Auch die Folgekosten der Klimakrise steigen rasant. Die Flutkatastrophe im Ahrtal etwa forderte nicht nur über 180 Menschenleben, sondern verursachte zudem Schäden in Höhe von über 40,5 Milliarden Euro. Studien und Berichte kommen immer häufiger zum Schluss: Je länger wir zögern, desto teurer wird die Transformation. Bis 2050 könnte die Klimakrise Deutschland zwischen 280 und 900 Milliarden Euro kosten – deutlich mehr als die notwendigen Investitionen für einen systemischen Umbau.
Dabei sollten wir Investitionen in die Zukunft nicht als Schulden begreifen, sondern vielmehr als Chance: Laut einer Agora-Studie könnten Investitionen und Maßnahmen wie etwa die Elektrifizierung der Prozesswärme in der Industrie nicht nur den Klimaschutz voranbringen, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit stärken und Deutschland international wieder eine Vorreiterstellung im Bereich der Zukunftstechnologien verschaffen. Damit würden wir kommenden Generationen moderne Infrastrukturen, eine zukunftsfähige Wirtschaft und intakte Lebensgrundlagen hinterlassen. Studien untermauern also: Investitionen ebnen uns auch den Weg aus der Krise.
Wer tut schon was?
Zwar ist die Aufnahme von Krediten durch die Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3 im Grundgesetz (GG) nicht erlaubt. Allerdings erfüllt die Klimakrise die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Notsituation, gestützt durch Art. 20a im GG, wie der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland erläutert. Dieser Artikel verpflichtet zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und sichert damit die Freiheit heutiger und künftiger Generationen.
Um diese Freiheit zu wahren und die damit einhergehende Transformation zu finanzieren, haben Bremen und Saarland ihre Schuldenbremse gelockert. Beide Bundesländer beschlossen kreditfinanzierte Investitionspakete in Höhe von je drei Milliarden Euro: Für die beiden Wirtschaftsstandorte stehen zentrale industriepolitische und infrastrukturelle Projekte auf der Agenda. So sollen einerseits Projekte zum Erhalt bestehender Industrien finanziert werden, etwa durch Investitionen in die Industrie- und Wasserstoffinfrastruktur. Andererseits sollen auch Neuansiedlungen und ein intensivierter Transfer zwischen Forschung und Wertschöpfung mit Landesmitteln unterstützt werden.
Ein internationaler Vergleich zeigt Nachholbedarf: Laut dem Sachverständigenrat für Wirtschaft hinkt Deutschland wirtschaftlich hinterher, ebenso wie die EU insgesamt. Das zeigt auch der sogenannte Draghi-Report, der im Auftrag der EU-Kommission erstellt wurde. Demnach würde der Investitionsrückstand innerhalb der EU die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Kontinents und seiner Unternehmen existenziell gefährden. Um dies zu beheben, seien 750 bis 800 Milliarden Euro jährlich notwendig.
Wie schnell sich Erfolge durch Investitionen einstellen können, zeigt sich nach weniger als zwei Jahren anhand des Inflation Reduction Acts (IRA) in den USA: Stand August 2024 haben Firmen laut einem Report seit Unterzeichnung des Gesetzes 2022 in 47 Bundesstaaten mehr als 372 Milliarden US-Dollar in grüne Technologieprojekte investiert. Zudem wurden über 334.565 neue Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien und grünen Technologien geschaffen. Die bisherigen Erfolge des IRA haben dazu geführt, dass selbst Republikaner, die ursprünglich gegen das Gesetzespaket gestimmt hatten, nicht mehr für eine komplette Aufhebung plädieren.
Auch in Deutschland fordern die Wirtschaftsweisen, also der Sachverständigenrat Wirtschaft, die Modernisierung des Landes voranzutreiben und öffentliche Zukunftsinvestitionen zu priorisieren. Nur so könne man die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte aufholen und Deutschland zukunftstüchtig machen.
Der Wirtschaftsweise Achim Truger kritisierte, die Fixierung auf die schwarze Null und die Schuldenbremse habe dringend nötige Investitionen verhindert, das könne man insbesondere in den Bereichen Bildung, Verteidigung und Verkehrsinfrastruktur sehen. Die Infrastruktur des Güter- und Personenverkehrs etwa sei veraltet und dadurch mittlerweile deutlich eingeschränkt, was auch die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands beeinträchtigt. „Wir wollen die Flexibilität erhöhen und Spielräume schaffen, so dass man zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben tätigen kann, ohne dabei die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen auszuhöhlen“, erläuterte die Vorsitzende des Sachverständigenrats Wirtschaft, Monika Schnitzer, bereits Anfang 2024.
Auch Max Krahé, Forschungsdirektor beim Dezernat Zukunft, erklärte gegenüber Mission Wertvoll: „Staatsanleihen können produktivitätssteigernde Investitionen finanzieren, die Wirtschaft zur Vollauslastung bringen und die Kosten von Generationenaufgaben fair über die Zeit verteilen.“ Diesem Nutzen würden Zinskosten gegenüberstehen. Er ergänzt: „Kern der aktuellen Reformdebatte sollte es sein, diese ökonomischen Vor- und Nachteile zu diskutieren, anstatt dogmatisch weniger oder mehr Staatsverschuldung zu fordern. Gelingt es uns, eine solche Debatte konstruktiv zu führen, so bin ich zuversichtlich, dass sich ein rechtlicher Rahmen finden lassen wird, der die nächsten Regierungen wieder finanziell handlungsfähig macht.“
Wie ist der nächstmögliche Schritt?
Der deutschlandweite Investitionsbedarf ist enorm – aber wie viel Geld braucht es, um Deutschland fit für die Zukunft zu machen? Laut einer gemeinsamen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung werden rund 600 Milliarden Euro benötigt, um das Bildungssystem zu verbessern, den Investitionsstau in Kommunen abzubauen, Straßen und Schienen zu modernisieren und die Dekarbonisierung voranzutreiben.
Ein möglicher Lösungsansatz ist die Schaffung eines Infrastrukturfonds, der wie ein Sondervermögen von der Schuldenbremse ausgenommen ist. Alternativ könnte die „Goldene Regel“ eingeführt werden: Sie erlaubt es, Kredite in Höhe der staatlichen Investitionen aufzunehmen. Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, betont den Zeitfaktor: „Wenn wir erfolgreich Tempo machen, ist der Umbau schneller geschafft. Davon profitieren auch Wirtschaft, Beschäftigte – und (..) die nächste Generation.“
Dazu kommt, dass die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form laut Experten nicht alle vorhandenen Potenziale ausschöpft. Sie basiert auf veralteten Annahmen, zum Beispiel, dass eine gewisse Mindestarbeitslosigkeit notwendig sei, die Wirtschaftsleistung statisch bleibe und Frauen seltener erwerbstätig seien. Diese Annahmen widersprechen heutigen gesellschaftlichen Werten und bremsen den Fortschritt, insbesondere in Zeiten, in denen alle verfügbaren Arbeitskräfte für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen benötigt werden. „Damit verspielen wir unsere Zukunft und gefährden die Demokratie. Es ist nicht der Kapitalismus an sich, der im Weg steht. Sondern die angebliche Alternativlosigkeit, die unsere Politik bestimmt“, schreibt die Ökonomin und Direktorin vom Dezernat Zukunft, Philippa Sigl-Glöckner, in ihrem Buch „Gutes Geld – Wege zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft“.
Eine Reform der Schuldenbremse wäre demnach sinnvoll – und möglich, ohne das Grundgesetz zu ändern. So könnte der Gesetzgeber etwa die Berechnung des Arbeitspotenzials durch Expertinnen und Experten anpassen, und die damit verbundenen Werturteile vom Parlament treffen lassen. Das würde außerdem weitere Impulse geben, nachhaltige Politik zu betreiben: Wenn die Politik das Arbeitspotenzial erhöht, beispielsweise durch mehr und bessere Kinderbetreuung, bekommt sie auch mehr Kreditspielraum innerhalb der Schuldenbremse. Eine Win-Win-Situation für Wirtschaft und Gesellschaft. Und das Beste: Die Regierung könnte sich jetzt – ohne Grundgesetzänderung – zusammentun und erste Schritte in Richtung einer zukunftsorientierten Fiskalpolitik gehen.
Auf dem Festival, das vom 2. bis 8. Dezember läuft, stehen verschiedene Veranstaltungen über eine gute Zukunft und Utopien auf dem Programm, auch Planet Narratives und Mission Wertvoll sind unter den Kooperationspartnern.