Debattenkompass Wert & Wirkung

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Mit Wert & Wirkung bieten wir einen wissenschaftlich fundierten Kompass für die Debatten unserer Zeit an. Diesmal: Wie können wir Wohlergehen und Wohlstand für alle sichern?

Hinter dieser entscheidenden Zukunftsfrage steckt zunächst ein Dilemma: Es braucht dafür zwingend unsere Unternehmen und unsere Industrie. Beide sind auf Wachstum geeicht, müssen also immer produktiver werden, um im Markt zu bestehen. Kurzfristig finden wir ständig neue und vielfältigere Produkte toll, das Wachstum bringt aber gravierende Nebenwirkungen mit sich. Denn diese Art zu wirtschaften hat die Ökosysteme an ihre Belastungsgrenzen gebracht. Zunehmende Konflikte um Rohstoffe und Landflächen zeigen das. Mittelfristig sind damit nicht nur die Grundlagen weiteren Wohlstands in Gefahr, wir riskieren einen dramatischen Rückgang der Lebensqualität der Menschen unter stark veränderten Bedingungen.

Dieses Dilemma gehört also eigentlich ins Zentrum der Debatte über zukünftigen Wohlstand.

Ein Zitat des Ökonomen Joseph E. Stiglitz: „Was wir messen, beeinflusst was wir tun.“

Worum geht es eigentlich?

In Deutschland ist die Angst stets groß, wenn unsere Wirtschaft „schrumpft“. Geht es dann gleichzeitig auch mit dem Wohlstand bergab? Diese Beurteilung hängt davon ab, wie er gemessen wird. Eine andere Frage ist, wie wir ökonomische Sicherheit herstellen und Sozialsysteme finanzieren, wenn der Kuchen nicht einfach immer größer wird. Die Frage ist aber nur dann zu beantworten, wenn wir verstehen, was hinter dem im Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessenen „Wachstum“ wirklich passiert. Dieser erste Schritt ist zentral, um Prioritäten zu setzen – was ist uns besonders wertvoll – und die wirkungsvollsten Maßnahmen zu identifizieren.

In die Richtung gibt es seit Jahrzehnten Bemühungen: Bereits 2009 berief etwa die französische Regierung eine Expertenkommission um die drei Ökonomen Joseph E. Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi ein. Sie sollte klären, wie Wohlstand und Wohlergehen besser gemessen werden können. Zuletzt fand im Mai 2023 in Brüssel die Beyond Growth Conference statt. Dieser fraktionsübergreifend organisierte Versuch im EU-Parlament und die vielen anderen zuvor münden meist in Diskussionen nach dem Motto: „Ja, alles kompliziert“.

Am 21. Februar wurde nun aber ein neuer Vorstoß sichtbar: Im Jahreswirtschaftsbericht 2024 bestritt Bundesminister Robert Habeck nicht die schlechte Konjunktur und Stimmung, aber er ordnete weit differenzierter als üblich ein, was die Gründe dafür sind. Er verwies auf die wegen Krieg und Krisen angespannten internationalen Handelsmärkte und hohe Zinsen – das sind kurzfristige Gründe. Dazu kommen langfristige Probleme: „Die größte Herausforderung für Deutschland ist der Arbeitskräftemangel. Er wird sich in den nächsten Jahren verschärfen und das Potenzialwachstum dämpfen.“ Gezeigt wird also: Die Idee, dass wir schlicht immer weiter Zugriff auf natürliche und menschliche Ressourcen für noch mehr wirtschaftliche Produktion haben, ist Geschichte.

Deshalb ist es begrüßenswert, dass der Jahreswirtschaftsbericht die Perspektive weitet, mit der wir Vorkehrungen und Prioritäten formulieren können. In Kapitel G – „Wohlfahrtsmessung und gesellschaftlicher Fortschritt“ – liefern über 30 weitere Indikatoren in vier Hauptkategorien ein differenzierteres Bild zur Frage nach Wohlstand und Wohlergehen im Land. Neben der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit spielen auch soziale Gerechtigkeit, ökologischen Grenzen und Zukunftsfähigkeit eine Rolle.

Manche Datengrundlage ist noch nicht ganz einheitlich, und Extremsituationen wie Krieg und Inflation bilden natürlich Sondereffekte, gerade deshalb ist es aber so wichtig, dass es positive Entwicklungen gibt: Investitionen der Industrie in Klimaschutz? Sattes Plus im Vergleich zum Vorjahr. Breitbandausbau? Plus. Immer mehr Frauen in Führungspositionen oder der steigende Anteil Erneuerbarer am Bruttoendenergieverbrauch. 2024 ist erstmals auch Biodiversität als Indexwert dabei –  „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“. Es wird also genauer hingeguckt, welche Richtung das BIP-Wachstum hat – wo etwas entsteht und vergeht.

Was passiert, wenn wir weitermachen wie bisher?

Selbst wenn diese eine Zahl, das BIP, wieder steigt, es der Wirtschaft vermeintlich besser geht, werden Ökosysteme in den nächsten Jahren weiter kollabieren. Zahllose Arten werden verschwinden. Die Erde wird sich immer schneller aufheizen. Gerade in Europa. All das wird enorm teuer. Diese zukünftigen Kosten sind in dem rückwärtsgewandten Indikator nicht zu sehen. Genauso wenig, wie stark die Belastung der natürlichen Systeme dazu führt, dass sie sich unverhältnismäßig verändern. Das sind die Muster von komplexen Systemen, die in den ökonomischen Projektionen aber nicht vorkommen. Das wurde auch gerade von 200 Ökonominnen und Ökonomen in einem Brief an die Europäische Kommission gefordert – wir können nicht weiter mit Modellen in die Zukunft steuern, die ökologische Veränderungsmuster in der Realität ausblenden.

Viel wichtiger ist es, die realen Grundlagen des Wirtschaftens gut im Blick zu halten, wirtschaftliche Aktivität also nicht nur als Geldwert zu behandeln, sondern zu fragen, was konkret dahinter passiert. Zerstört die Art der Produktion von Nahrung, Kleidung und anderen Versorgungsgütern die Natur irreversibel – oder werden Ökosysteme parallel wieder aufgebaut? Werden Energiekonzerne erfolgreicher, weil sie wieder auf Gas und Öl setzen oder endlich auf Erneuerbare? Es geht um Strukturwandel für die Sicherung des Wohlstands von morgen. Dabei kann auch das BIP wachsen. Dies allein ist aber kein guter Kompass für die Richtungssicherheit.

Das wirtschaftsliberale World Economic Forum hat das in seinem Mitte Januar veröffentlichten Bericht „The Future of Growth“ zusammengefasst. Kernaussage – ähnlich wie im Jahreswirtschaftsbericht: Die Zukunfts- und Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft lässt sich nicht mit einer Wachstumszahl wie dem BIP messen. Deswegen gibt es vier Hauptkategorien, die einen Rahmen bilden, der eine breite Datenbasis versammelt und abbildet. Innovationsfähigkeit, Teilhabe, Nachhaltigkeit und Resilienz. Gecheckt werden für 107 Länder, neben dem BIP, etwa die Menge wissenschaftlicher Veröffentlichungen und beantragter Patente, die Verteilung von Reichtum, Geschlechtergerechtigkeit, Biodiversitätsschäden, aber auch wie demokratisch ein Staat aufgestellt ist.

Wir sehen: Wenn die Debatte auf „immer mehr“ reduziert wird, geraten Qualität und Zukunft aus dem Blick.

Wer tut schon was?

Neben diesen Berichten gibt es immer wieder Vorstöße, Qualität zu fassen – insbesondere auch die Lebensqualität, denn daran sollte sich erfolgreiches Wirtschaften ja eigentlich messen. Seit 2018 gibt es etwa die Wellbeing Economy Alliance (WEAll) –  ein Zusammenschluss von 400 Organisationen sowie zahlreichen Netzwerken und Bewegungen. Zudem machen Länder wie Neuseeland, Wales und Schottland mit. Das Konzept dahinter: „Eine Wellbeing-Ökonomie ist eine Wirtschaft, die den Menschen und dem Planeten dient und nicht umgekehrt.“ Das Ziel: 50 wichtige Volkswirtschaften sollen sich gemeinsam und abgestimmt von der aktuellen Art des Wirtschaftens verabschieden – „the old way“ – sowie planetare Grenzen und menschliches Wohlergehen ins Zentrum von Planung, Produktion und Handeln stellen – „new way“. Das WEAll-Kooperationsprojekt Sustainable Prosperity zeigt viele Werkzeuge und Beispiele, wie eine Wellbeing Economy erreicht werden kann.

In Deutschland gibt es bereits eine zentrale Instanz, die genau hinschaut, ob die Politik Geld zielgerecht und sinnvoll mit Blick auf das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge ausgibt: den unabhängigen Bundesrechnungshof (BRH). Er ist den Bundesministerien und dem Kanzleramt „statusgleich“. 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter prüfen immer nach den Maßstäben „Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit“. Leitfragen und Vorgehen dazu hat 2019 BRH-Präsident Kay Scheller anhand eines passenden Beispiels erklärt: „Wie erfolgreich ist so ein Programm für die Energiewende der Regierung? Werden die Ziele erreicht? Gibt es überhaupt Ziele? Wir rücken also Ziele und Wirkung in den Fokus.“ Was nicht heißt, dass über die Berichte des BRH nicht auch diskutiert werden darf.

Seit Oktober 2018 spielt generell das Thema Nachhaltigkeit eine große Rolle: Die Landesrechnungshöfe der Länder und der des Bundes veröffentlichten gemeinsam die „Bonner Erklärung“. Darin wird betont, wie wichtig das „Engagement“ von Ländern, Bund und Kommunen ist, um die globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der UN bis 2030 gemeinsam zu erreichen. Weiterhin wird auf den „Zusammenhang zwischen den Zielen für Nachhaltige Entwicklung und guter Regierungsführung sowie guter Verwaltung“ nachdrücklich hingewiesen und darauf, dass „langfristig tragfähige Haushalte der Schlüssel zu nachhaltigen Staatsfinanzen sind“.

Wie ist der nächstmögliche Schritt?

Auf den SDGs basiert auch die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, aus der wiederum viele der genannten Indikatoren im Jahreswirtschaftsbericht stammen. Die Strategie verdient deutlich mehr Aufmerksamkeit – und Öffentlichkeit. Sie wird seit 2002 kontinuierlich weiterentwickelt und überarbeitet. Der dafür zuständige Rat für Nachhaltige Entwicklung hat erst im Februar wieder konkrete Vorschläge gemacht, weitere Messgrößen aufzunehmen und die sich verschärfenden Krisen von Umwelt, Geopolitik und Demokratie stärker abzubilden. Etwa die Förderung von Kreislaufwirtschaft oder den Abbau umweltschädlicher Subventionen.

Im Dokument finden sich oft Zwischenziele bis 2030, anhand derer wir grundsätzlich überprüfen können, ob wir auf Kurs sind. Stimmt beim Wachstum die Richtung und bei der Wohlstandsmessung das Zielbild, kann sich hinter dem BIP eine Wirtschaft entwickeln, die Wohlstand und Wohlergehen dauerhaft erhält.

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