Mit Wert & Wirkung bieten wir einen wissenschaftlich fundierten Kompass für die Debatten unserer Zeit an. Diesmal erklären wir, warum es eine handlungsfähige Regierung und eine starke europäische Zusammenarbeit braucht.
Der Ausgang der Bundestagswahl hinterlässt bei vielen ein Gefühl der Zerrissenheit. Die schleichende Normalisierung extrem rechter Positionen ist alarmierend, doch sie hat auch eine Gegenbewegung ausgelöst. Der öffentliche Schock über politische Tabubrüche – insbesondere in der Debatte um eine restriktivere Migrationspolitik – hat das Bewusstsein vieler geschärft. Überraschend dazugewonnen hat die Linke, die ihren Stimmenanteil fast verdoppeln konnte. Zwar ist die Union stärkste Kraft geworden, doch die beiden ehemaligen Volksparteien haben eine Mehrheit von 50 Prozent nur knapp geschafft, während die rechtsextreme AfD bei über 20 Prozent liegt.
Das Wahlergebnis verdeutlicht den Ernst der Lage. Umso wichtiger wird es jetzt, die bestehenden Herausforderungen und Probleme anzunehmen und schnell Brücken zu bauen, um die im Wahlkampf entstandenen Gräben zu überwinden.
Worum geht es eigentlich?
Die nächste Bundesregierung steht vor gewaltigen Aufgaben: Es geht um nicht weniger als die Stabilisierung der Demokratie und die Weichenstellung für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Angesichts multipler Krisen – vom andauernden Krieg in der Ukraine bis zur neuen Trump-Musk-Administration, die liberale Demokratien und die internationale Ordnung herausfordert – braucht es eine handlungsfähige Regierung und eine starke europäische Zusammenarbeit.
Ohne Kompromisse und tragfähige Bündnisse wird das nicht gelingen. Doch die Herausforderungen der kommenden Jahre beschränken sich nicht nur auf geopolitische und demokratische Fragen – auch die Klimakrise erfordert entschlossenes Handeln: Deutschland verfehlt weiterhin seine selbstgesteckten Klimaziele, wie der Expertenrat für Klimafragen kürzlich in seinem Gutachten feststellte. Dabei war Umweltpolitik für viele Wählerinnen und Wähler auch bei der jetzigen Bundestagswahl ein zentrales Thema. Den Klimaschutz aus Angst vor politischem Gegenwind zurückzustellen, wäre fatal – die Folgen würden uns zeitversetzt nur umso härter treffen.
Wirtschaftsexperten warnen zudem vor den ökonomischen Risiken eines Zick-Zack-Kurses in der Klimapolitik: „Eine Bundesregierung, die die Weichen für eine klimaneutrale Zukunft stellen will, kann nicht auf eine rückwärtsgewandte Klimapolitik setzen“, schreiben die Vorsitzende des Sachverständigenrats Wirtschaft, Monika Schnitzer, und Bernd Weber vom konservativen Thinktank Epico im Tagesspiegel. Statt festgelegte Maßnahmen wie das Verbrenner-Aus oder den Weg zur Klimaneutralität insgesamt infrage zu stellen, sollte die neue Regierung an bewährten Instrumenten wie dem EU-Emissionshandel festhalten.
Doch derzeit steht viel auf dem Spiel. Ziele, die lange als gesetzt galten, könnten tatsächlich zurückgenommen oder aufgeschoben werden. So gelten eigentlich seit Anfang 2025 schärfere CO2-Grenzwerte für Autos, die in Europa hergestellt werden. Dieser Rückgang schützt nicht nur das Klima, sondern auch unsere Gesundheit und unseren Geldbeutel. Doch weil einige Autobauer noch immer weit davon entfernt sind, diese Ziele zu erreichen und ihnen nun hohe Strafzahlungen drohen würden, hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihnen eine „Atempause“ in Aussicht gestellt: Sie sollen drei Jahre länger Zeit bekommen, um ihre Emissionsziele zu erreichen.
Für die Autobranche ist das ein voller Erfolg. Das Problem: Verschiebt man die Flottengrenzwertrichtlinie, könnte das nicht nur den Ausstoß von bis zu 50 Millionen Tonnen mehr CO2-Emissionen nach sich ziehen, sondern auch dazu führen, weitere Ziele infrage zu stellen – für den kurzfristigen Profit.
Gerade in unsicheren Zeiten ist Stabilität gefragt – auch in der Klimapolitik. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass der Green Deal, der Ausbau erneuerbarer Energien und die Transformation der Industrie bereits Wirkung zeigen. Jetzt gilt es, diese Dynamik zu nutzen, statt zurückzurudern. Denn eines ist klar: Die Herausforderungen sind groß, aber die Richtung ist längst gesetzt.
Über den derzeit bestehenden Problemen schwebt außerdem die dringend notwendige Reform der Schuldenbremse. Hier ist es am Dienstagabend allerdings zum Durchbruch in den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD gekommen, als die Parteien sich auf ein historisches Finanzpaket für Verteidigung und Infrastruktur einigten. Zum einen soll die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse modifiziert werden – jedoch Union und SPD zufolge nur für Verteidigungsausgaben. Zum anderen soll ein Sondervermögen für die Instandsetzung der Infrastruktur mit 500 Milliarden Euro geschaffen werden. Wegen der komplizierten Mehrheitsverhältnisse im neu gewählten Bundestag soll die nötige Grundgesetzänderung noch mit dem alten Bundestag beschlossen werden.
Laut dem Buch Zukunftsbilder 2045 könnte Hamburg im Jahr 2045 völlig anders aussehen. Eine stärkere Fokussierung auf Lebensqualität und gezielte Investitionen in die Infrastruktur könnten die Stadt tiefgreifend verändern. Foto: realutopien.de / Reinventing Society & Wire Collective (CC BY-NC-SA 4.0) / Phoenixpix
Was passiert, wenn wir weitermachen wie bisher?
Die Folgen kurzfristiger Interessenpolitik sind weltweit längst sichtbar: zunehmende Naturkatastrophen, Artensterben, Ressourcenknappheit und Bodenerosion sind das Resultat eines Systems, das fossile Konzerne, nicht aber die Menschen schützt. Dabei hängt unser Wohlergehen von stabilen natürlichen Ökosystemen ab – doch wenn diese kippen, geraten auch unsere Gesellschaften ins Wanken. Bestseller-Autor Frank Schätzing bringt es auf den Punkt: „Die Klimakrise ist nicht eine Krise von vielen, sondern sie ist eine Überkrise. Sie überspannt alle Krisen und erzeugt neue.“
Die bisherigen Lösungen haben uns im globalen Norden zwar Wohlstand beschert, doch global betrachtet steuern wir in eine Sackgasse. Soziale Ungleichheit wächst, das Vertrauen in demokratische Prozesse schwindet. Längst zeigt sich: Weiterzumachen, wie bisher, bedeutet, den Kollaps zu riskieren. Die Alternative? Eine Neuausrichtung unserer Wirtschaft – sozial und ökologisch nachhaltig.
Rechtspopulistische Kräfte setzen darauf, Klima- und Umweltprobleme zu leugnen oder zu ignorieren. Doch Verdrängung ändert nichts an der Realität. Über naturwissenschaftliche Kausalitäten lässt sich nicht verhandeln. Zahlen und Narrative prägen unser Weltbild – und oft täuschen scheinbar bewährte Lösungen aus der Vergangenheit eine Stabilität vor, die es längst nicht mehr gibt.
Ein Beispiel dafür ist die europäische Souveränität. Europa steht vor der Herausforderung, seine Zukunft selbstbestimmt gestalten zu müssen – und gerät dabei zunehmend unter Druck: durch geopolitische Spannungen mit Russland und eine unberechenbare US-Politik. Die Kosten für eine unabhängige Sicherheitsstrategie sind hoch. Dem aktuellen Vorschlag der Union und SPD zufolge sollen die Verteidigungsausgaben nach oben hin offen sein und ab der definierten Höhe von über einem Prozent des BIP von der Schuldenbremse ausgenommen werden.
Manche Experten warnen vor einer einseitigen Fokussierung auf militärische Ausgaben, denn die Ertüchtigung kritischer Infrastrukturen und Präventionskonzepte tragen ebenfalls zur Sicherheit bei. Doch eines ist klar: Ein souveränes Europa muss sich selbst verteidigen und sein geopolitisches und sicherheitspolitisches Umfeld zugunsten eigener Interessen und Werte gestalten können. Maßstab dafür ist die „Souveränitätstriade” – seine Ausstattung mit Machtressourcen, die Wirksamkeit ihrer Anwendung und seiner Verwundbarkeit durch Abhängigkeit von anderen. Europa bietet seinen Mitgliedsstaaten als “Kollektivmacht” ein Maß an Souveränität, das ihnen als Einzelmacht verwehrt wäre.
Eine Schlüsselrolle für die Unabhängigkeit spielt auch die Dekarbonisierung. Weniger fossile Importe aus Autokratien wie Russland bedeuten weniger Erpressbarkeit und größere wirtschaftliche Resilienz. Nicht ohne Grund wurden erneuerbare Energien nach dem russischen Angriff auf die Ukraine als „Freiheitsenergien” bezeichnet. Es geht also nicht nur um Klima und Energie – sondern um Europas Fähigkeit, seine eigene Zukunft zu bestimmen. In Wohlstand und Sicherheit.
Die Abkehr von den fossilen Energien bedeutet auch weniger Erpressbarkeit und eine größere wirtschaftliche Resistenz. Foto: IMAGO /Depositphotos
Wer tut schon was?
Die Bundestagswahl hat klare Mehrheiten geschaffen – eine Koalition aus Union und SPD gilt als wahrscheinlichste Regierungsoption. Viele befürchten, dass die sozial-ökologische Transformation und die Energiewende ohne die Grünen ins Stocken geraten könnten. Doch das ist unwahrscheinlich: Beide Parteien haben sich bereits klar für den Ausbau erneuerbarer Energien ausgesprochen, wollen Genehmigungsprozesse beschleunigen und das Stromsystem flexibler gestalten.
Eine zentrale Rolle für dieses Vorhaben spielt die bislang geplante Kraftwerksstrategie, die essenziell ist, um Industriezweige wie Stahl- und Zementproduktion auf grünen Wasserstoff umzustellen und Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Zwar konnte die Ampelregierung hier bereits Fortschritte erzielen, doch ein entscheidendes Gesetz zur Kraftwerkssicherheit blieb bislang aus. Hier ist anzunehmen, dass die Union eine zumindest in Teilen abweichende Strategie verfolgen und dann in Gesetze gießen wird.
Die neue Regierung hat nun die Chance, diesen Prozess gezielt voranzutreiben. Denn neue Kraftwerke sind eine Voraussetzung für den beschleunigten Kohleausstieg – ihr Bau muss für Betreiber durch verlässliche politische Rahmenbedingungen attraktiver werden. Eine kluge Steuerung dieses Übergangs wird darüber entscheiden, ob Deutschland seine Klimaziele erreicht, ohne wirtschaftliche Stabilität und Versorgungssicherheit zu gefährden.
Dass Planungs- und Investitionssicherheit für die Wirtschaft entscheidend sind, zeigen auch branchenübergreifende Appelle: Zahlreiche Wirtschaftsverbände haben in den Wochen vor der Wahl deutlich gemacht, dass Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zusammen gesehen werden sollen und dafür eine Richtungssicherheit notwendig ist. Ihr Ziel: Die Klimaneutralität bis 2045 konsequent weiterverfolgen und durch verbindliche Maßnahmen sowie Investitionen in Zukunftstechnologien absichern.
Eine entsprechende Einigung auf Planbarkeit und klare Rahmenbedingungen könnte der neuen Regierung zusätzlichen Rückenwind aus der Wirtschaft für eine ambitioniertere Klimapolitik geben. Der Weg für eine nachhaltige Entwicklung ist vorbereitet – jetzt kommt es darauf an, den Schwung zu nutzen, um Klimaschutz, wirtschaftliche Stabilität und Standortattraktivität klug miteinander zu verbinden.
Das sind die nächstmöglichen Schritte
Mit den laufenden Sondierungsgesprächen nach der Bundestagswahl geht es jetzt darum, den Kurs für eine handlungsfähige und zukunftsorientierte Politik festzulegen. Ein zentrales Thema: die Reform der Schuldenbremse. Denn ohne finanzielle Spielräume bleiben dringend benötigte Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Innovation und Klima auf der Strecke. Dass nun in den Reihen der Regierungsparteien und Wahlsieger ernsthaft darüber debattiert wird, die Schuldenbremse noch im alten Bundestag zu reformieren, um die künftig fehlende Zweidrittelmehrheit zu umgehen, zeigt, dass der Ernst der Lage erkannt wurde. Dieser Schritt könnte den notwendigen Spielraum für eine zukunftsfähige Wirtschaft und nachhaltige Transformation eröffnen.
Gleichzeitig gilt es, demokratische Umgangsformen hochzuhalten und auf eine geeinte und widerstandsfähige EU hinzuarbeiten. Angesichts des Eklats im Weißen Haus, bei dem US-Präsident Donald Trump den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj öffentlich bloß stellte, betonte US-Experte Thomas Zimmer von der Georgetown University, dass Europa sich von der Idee verabschieden müsse, dass eine gemeinsame Politik mit den USA möglich sei. Die USA bewegten sich von liberalen Demokratien in Europa weg, hin zu autokratischen Herrschern wie Wladimir Putin in Russland.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Beim kurzfristig anberaumten Gipfel in London kamen EU- und NATO-Politiker zusammen, um Geschlossenheit zu demonstrieren und die Finanzierung einer unabhängigen europäischen Verteidigungsfähigkeit voranzutreiben. Das ist ein richtiger und notwendiger Schritt, um Europas Verteidigung aufzustellen und für die Ukraine zu retten, was zu retten ist. Doch anstatt sich in ideologischen Grabenkämpfen zu verlieren, müssen EU- und NATO-Staaten jetzt pragmatisch handeln: Wo sind Reformen nötig? Welche finanziellen Mittel müssen bereitgestellt werden? Analytische Politik ist gefragt – nicht vorschnelle Reaktionen oder symbolische Debatten.
Die nächsten Monate werden entscheidend sein. Die hohe Wahlbeteiligung zeigt, dass Bürgerinnen und Bürger bereit sind, sich einzubringen – nun muss die Politik liefern. Bleibt sie in endlosen Auseinandersetzungen stecken, droht eine Blockade, die alle Herausforderungen verschärft. Doch es gibt auch eine Chance: Mit mutigen Reformen, einem konstruktiven politischen Stil und einer klugen Europapolitik könnte die neue Regierung nicht nur Stabilität sichern, sondern echte Fortschritte ermöglichen. Sie könnte das Land in den kommenden Jahren grundlegend modernisieren, die Bedingungen für innere und äußere Sicherheit verbessern und für ein Europa sorgen, in dem Deutschland auch sicherheitspolitisch und klimatechnisch die Rolle spielt, die seiner Wirtschaftskraft angemessen sind. Die Frage ist nicht, ob Veränderung kommt – sondern ob wir sie aktiv gestalten oder von ihr überrollt werden.
Credit: IMAGO / Zoonar
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