Mit Wert & Wirkung bieten wir einen wissenschaftlich fundierten Kompass für die Debatten unserer Zeit an. Diesmal erklären wir, warum Naturflächen und ihre Wiederbelebung unseren Wohlstand sichern.
Oft versteckt sich hinter sperrigen, nüchternen Begriffen Großes und Entscheidendes. Nicht selten gehen sie in Diskussionen schnell unter. Ein aktuelles Beispiel: Biodiversität.
Worum geht es eigentlich?
Gemeint sind damit nicht nur alle Arten auf dem Planeten. Sondern auch der von ihnen bewohnte und – belebte – Raum. An Land. Auf und unter Wasser. Es geht insbesondere um das engverflochtene Netzwerk aus Pflanzen, Tiere, Pilzen und Bakterien, ihr Zusammenwirken. Ein riesiges biologisches Puzzle. Die Leistung dieser Ökosysteme und seiner Bewohner ist schlicht großartig. Es ist die eines unentwegt produzierenden Super-Dienstleisters. Der Wert sämtlicher dieser Ökosystemdienstleistungen wird auf mindestens 125 Billionen US-Dollar geschätzt.
Wir Menschen bekommen so fast alles, was wir brauchen: saubere Luft und sauberes Wasser, Nahrung, Rohstoffe, Vielfalt, Entspannung. Biodiversität bildet die Grundlagen dafür, dass wir Menschen funktionieren können. Dass es uns gut geht. Dass unsere Wirtschaft funktionieren kann. Je mehr Diversität, je mehr Vielfalt, desto widerstandsfähiger sind die Ökosysteme selbst. Zwei der globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) widmen sich daher dem Leben unter Wasser und Leben an Land – SDG 14 und 15. In Europa sind derzeit 81 Prozent davon in einem schlechten Zustand. Das sollten wir ändern. Die gute Nachricht ist: Wir können das ändern.
Vor zwei Wochen wurde deswegen vom EU-Parlament das Nature Restoration Law verabschiedet. Laut der Verordnung müssen nun bis 2030 mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen des Kontinents wiederhergestellt, also renaturiert werden. Heißt vereinfacht: Wir Menschen, Politik und Wirtschaft tragen dafür Sorge, dass die durch industrielle Bewirtschaftung, Entwässerung, Vermüllung und Giftstoffe – wie Pestizide – verlorengegangene, produktive Vielfalt flächendeckend erneuert wird. Da es dabei de facto um unsere Lebengrundlagen geht, dürfte das eigentlich eine klare Sache gewesen sein, oder?
Was passiert, wenn wir weitermachen wie bisher?
Die Abstimmung geriet zur Zitterpartie. Viele konservative Abgeordnete stimmten mit Nein. Die notwendige Mehrheit war kleiner als gedacht. Gerade Agrar- und Forstwirtschaftslobby hatten sich monatelang gegen das Gesetz gewehrt. Ein wichtiges Argument: Alles gehe zu Lasten der Landwirtschaft, die Ernährungssicherheit sei gefährdet. Das stimmt so nicht – und viele Landwirte und Landwirtinnen sind für das Gesetz, ebenso wie der erzkonservative europäische Jäger-Dachverband FACE.
Auch die Wissenschaft sagt klar: Schutzmaßnahmen sind überfällig. Ausbeutung und intensive Nutzung richten gewaltige Schäden an. Die Zahlen sind eindeutig: 69 Prozent der Bestände von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Reptilien und 80 Prozent des Bestands aller Insekten sind in den letzten 50 Jahren komplett verschwunden. Weg. Die Flächen „echter Wildnis“ liegen mittlerweile bei knapp 2,9 Prozent auf dem Planeten. Es war mal ein Vielfaches davon. Die Wissenschaft nennt all das: „sixth mass extinction“ – das sechste Massenaussterben in der Geschichte des Planeten.
Ökosysteme filtern unser Wasser. Küstenfeuchtgebiete wiederum, mit Salzwiesen, Mangroven und Seegraswiesen, binden etwa die Hälfte des Kohlenstoffs, der in den Sedimenten der Ozeane steckt. Bienen und andere bedrohte Insekten machen einen entscheidenden Job: Die Produktion von über 75 Prozent der weltweit angebauten Lebensmittel hängt von der Bestäubung ab. 90 Prozent aller Wildpflanzen auf der Erde sind ebenfalls darauf angewiesen.
Geht’s so weiter, bündeln sich die geschätzten Ertragsverluste im Agrarsektor auf bis zu 577 Milliarden US-Dollar jährlich. Zu erwartende Hungersnöte sind noch gar nicht mit drin. Die große Mehrheit dieser Leistungen ist nicht vollständig ersetzbar – einige gar nicht. Neue Produkte, Technologien und Geld können das nicht heilen. Too big to fail. Deswegen ist es so wichtig, Ökosysteme, die wir noch wiederherstellen können, zu retten und zu erneuern. Jede einzelne Maßnahme sichert unseren Wohlstand.
Der Green Deal der EU, der Weg zu einer klimaneutralen und wettbewerbsfähigen Wirtschaft bis 2050, funktioniert ohne das Nature Restoration Law nicht. Es ist eingebettet in globale Ziele: 2022 haben Staats- und Regierungschefinnen und -chefs das Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework (GBF) unterzeichnet. 30 Prozent der weltweiten Flächen sollen dank dieser Absichtserklärung an Land und Wasser bis 2030 unter Schutz gestellt und 30 Prozent der weltweiten Ökosysteme wiederhergestellt werden. Dem GBF wird ein ähnlicher Stellenwert beigemessen wie dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015.
Wer tut schon was?
2022 wies das finnische Innovationsinstitut Sitra in einer Studie darauf hin, dass wir bis 2035 insbesondere mit regenerativer Landwirtschaft, verringertem Fleischkonsum und der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung viel in puncto Biodiversität erreichen könnten. Der Zustand des Jahres 2000 wäre in Reichweite – ein Meilenstein.
Im Zentrum anderer Maßnahmen stehen ökonomische Instrumente: Zahlungen für Ökosystemdienstleistungen. Wer diese Wertschöpfung in der Art zu wirtschaften gut erhält, wird dafür auch entlohnt. Hier ist Costa Rica weltweit eine Inspiration. Der Baumbestand im mittelamerikanischen Land war von 1950 bis 1987 von 72 Prozent auf 21 gesunken. Die gerodeten Flächen wurden vor allem landwirtschaftlich genutzt. 1996 wurde deswegen ein neues Forstgesetz eingeführt, das ein kluges System beinhaltet – „Payments for Ecosystem Services“. Neben Schutzbestimmungen enthält das Gesetz so auch finanzielle Anreize: Über einen Fonds bekommen private Grundbesitzer Geld, wenn sie ihre Waldflächen renaturieren und erhalten. Hauptsächlich gegenfinanziert ist der „Fondo Nacional de Financiamiento Forestal“ über eine Steuer auf den Verkauf fossiler Brennstoffe. 2018 waren 52 Prozent des ursprünglichen Waldbestands in Costa Rica wiederhergestellt.
Mittlerweile handeln auch immer mehr Institutionen, Organisationen und Unternehmen. Dabei bewegt sich die deutsche Wirtschaft zwar, aber Großunternehmen stehen erst „am Anfang“ laut einer Studie von WWF und der Beratungsfirma Bain & Company. Instrumente zur Messung gibt es mittlerweile, dank innovativer Start-ups wie Nala.
Der Bekleidungskonzern Patagonia engagierte sich gemeinsam mit anderen Organisationen seit 2018 massiv im Projekt „Vjosa forever“ um Europas größten gleichnamigen Wildfluss in Albanien. Mit Erfolg, die Regierung lenkte ein: Seit März letzten Jahres sind der Fluss und seine Ökosysteme nun ein Schutzgebiet.
Schützen und erneuern Unternehmen Biodiversität, ist das ein echtes Investment – mit beträchtlicher Rendite. Studien zeigen: Jeder investierte Euro in die systemische Wiederherstellung produziert einen ökologischen Mehrwert von 8 Euro. Guter Deal, oder? Und all diese Maßnahmen hätten zugleich positive Auswirkungen auf den Katastrophenschutz, den Klimaschutz – und unsere Gesundheit.
Wie ist der nächstmögliche Schritt?
Dem Nature Restoration Law müssen nun noch die EU-Mitgliedsstaaten zustimmen. Es ist wichtig, dass hier alle mitziehen. Zumal dann innerhalb der nächsten zwei Jahre erst konkrete nationale Umsetzungsvorschläge erarbeitet werden, um das 20-Prozent-Ziel zu erreichen. Doch diese Zeit hilft, grundlegenden Wohlstandsverlust zu verhindern. Proaktive unternehmerische Maßnahmen hin zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft, ein effektives Abfallmanagement und das Vermeiden von Umwelt-, Luft- und Bodenverschmutzung sind auch deswegen so wichtig. Sie können schneller wirken – und motivierende Signale in die umgebende Wirtschaft und die Politik senden.
Auch wenn es schwierig bleibt aufgrund des kleinteiligen Zusammenspiels, Öko-Dienstleistungen effektiv zu messen und Preisschilder zu verteilen, ist das Handeln zum Erhalt und zur Wiederherstellung von Biodiversität politisch unabdingbar und ökonomisch entscheidend. Und die Welt sieht dann auch noch viel schöner aus.
… dass die Menschen keine Lust auf Berichterstattung zu Biodiversität und Klimathemen haben? Stimmt nicht, sie wünschen sich feste Sendeplätze und deutlich mehr Infos dazu, was man tun kann.
Maja Göpel spricht im FAZ-Podcast mit Christoph Bornschein über aktuelle Herausforderungen der Transformation – und wie Mission Wertvoll dabei eine Rolle spielen will.
Im Interview stellen Lars Jessen und Nicole Zabel-Wasmuth unser Projekt Planet Narratives vor und erklären, wie der Impact von konstruktiven Klimaerzählungen in Film und Fernsehen gemessen werden kann.
Unser Geschäftsführer David Wortmann spricht in seinem Podcast „Let’s Talk Change“ mit Jutta Paulus, Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament über das Nature Restoration Law.
Nicole Zabel-Wasmuth war im Podcast „Stichwort Drehbuch“ zu Gast. Die Gründerin von Planet Narratives erklärt, welches Potential Filme bisher ungenutzt lassen, wenn es um soziale Kipppunkte und Klimaschutz geht.
Hier geht’s zum Gespräch