Debattenkompass Wert & Wirkung

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Mit Wert & Wirkung bieten wir einen wissenschaftlich fundierten Kompass für die Debatten unserer Zeit an. Diesmal erklären wir, warum man den Klimawandel nicht „abwählen“ kann.

Die EU-Wahlen und ihr Ausgang waren das zentrale Thema der letzten Wochen. Wie oft nach Wahlen beobachten wir von verschiedenen Seiten den Versuch, Deutungshoheit über den Diskurs und die Interpretation der Ergebnisse zu erlangen. Wurden Klimapolitik und Umwelt „abgewählt“? Wie kann es weitergehen?

Climate Crunch Time: Zitat von Katharina Reuter: Nachhaltigkeit ist die neue Wettbewerbsfähigkeit

Warum die Ergebnisse der EU-Wahl mit Blick auf ganz Europa gar nicht so schlecht aussehen

Tatsächlich war das Thema Klimaschutz auf Platz vier unter den relevantesten Themen bei der Wahlentscheidung – gleich nach den Themen Friedenssicherung, soziale Sicherheit und Zuwanderung. Parteien und andere Akteure versuchen in Folge der Ergebnisse Ton und Richtung der Debatte vorzugeben, vor allem um die eigenen Interessen prominent zu platzieren.

Zwar besteht aufgrund der neuen Verhältnisse im Parlament das Risiko, dass das Klimaziel für 2040 doch noch niedriger angesetzt wird als geplant („Green Deal light“) und Rechtspopulisten neue ehrgeizige Gesetze verzögern. Aber bislang drohen keine Mehrheiten gegen eine effektive und verbindliche Klimapolitik. Die in den letzten fünf Jahren verabschiedeten Gesetzespakete dürften nur schwer rückgängig zu machen sein, erklärte Felix Schenuit von der Stiftung Wissenschaft und Politik nach der Wahl.

Wichtig ist zudem, wer zuständiger Kommissar oder zuständige Kommissarin für den Green Deal wird. Als wahrscheinlichste Kandidatin gilt die spanische Klimaministerin und Spitzenkandidatin der sozialdemokratischen PSOE, Teresa Ribera. Sie ist bekannt als Verfechterin der bisherigen EU-Klimapolitik. Zudem hat sich keine der vier größten europäischen Fraktionen für einen Rückschritt beim Green Deal ausgesprochen, sie sind sich lediglich uneinig über den weiteren Weg zum Ziel. Deswegen brauche es eine neue Vision für Europa, die sich mit der Polykrise – also den vielen gleichzeitigen und sich teilweise gegenseitig verstärkenden Krisen – befasst und die Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Schocks und Belastungen gewährleistet – verankert im Green Deal, wie der Systems Transformation Hub in einem Policy Brief schreibt.

Worum es eigentlich geht: Das Klima können wir nicht abwählen

Es geht nun darum, die Debatte zu erden: Klimawandel ist kein Thema, das wir wählen oder abwählen können, sondern eine Realitätsveränderung, der wir uns mit unterschiedlichen Maßnahmen stellen können. Streit mit der Physik ist sinnlos. Nehmen wir Maßnahmen zurück, erhöhen wir gleichzeitig die Gefahr „eines ungebremsten Klimawandels, der die Menschheit ins Chaos stürzen würde“, sagte der Klimaforscher Mojib Latif. Es geht um systemische Fragen, nicht um Parteipolitik. Die Themen sind und bleiben zwingend aktuell. Sie sind Voraussetzung für unser langfristiges Wohlergehen.

Wie geht es konstruktiv mit der sozial-ökologischen Transformation und dem Green Deal weiter?

Zahlreiche Unternehmen haben das verstanden und in den vergangenen Jahren zukunftsweisende Investitionsentscheidungen getroffen. Ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Wirtschafts- und Umweltverbänden von der Caritas über Verdi bis hin zur Deutschen Umwelthilfe und dem Bundesverband nachhaltige Wirtschaft forderte kürzlich einen „European Green and Social Deal“.

Dem Bündnis zufolge müssten vorhandene Förderinstrumente wie der Just Transition Fund oder der EU-Innovationsfonds gestärkt und weitere stützende Instrumente entwickelt werden. Außerdem bräuchten Verbraucher Rahmenbedingungen, die ihnen einen bezahlbaren und nachhaltigen Konsum ermöglichten. Staatliche Maßnahmen müssten deshalb die gewünschten Änderungen der Lebensgewohnheiten begünstigen, etwa beim Umstieg vom Auto zum öffentlichen Nahverkehr.

„Nachhaltigkeit ist die neue Wettbewerbsfähigkeit“, erklärte auch Dr. Katharina Reuter, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Nachhaltige Wirtschaft (BNW). „Der Green Deal darf in keinem Falle abgewickelt werden.“ Eine konsequente Linie der Politik, das geht aus den Forderungen klar hervor, ist wichtig. Es braucht Richtungssicherheit. Für Unternehmen, damit sie weiter investieren können. Für die Gesellschaft, die erst lernt, sich an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen und mit den Auswirkungen der Klimakrise umzugehen.

Climate Crunch Time: Das EU-Parlament in Straßburg.

Das EU-Parlament in Straßburg. Foto: IMAGO / Ardan Fuessmann

Weltweit nimmt die Sorge über die globale Erderhitzung zu. Vier von fünf Befragten aus der ganzen Welt wünschen sich explizit, dass ihr Land seine Bemühungen im Kampf gegen die Klimakrise verstärkt. 56 Prozent gaben zudem an, mindestens einmal die Woche über den Klimawandel nachzudenken. Das hat eine große Umfrage des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), der Universität Oxford und GeoPoll ergeben.

Der gesellschaftliche Rückhalt für die Transformation besteht – weiterhin. Wie eng Klimaschutz und sozialer Schutz miteinander verknüpft sind, thematisiert auch ein aktuelles Thesenpapier des wissenschaftlichen Thinktanks Zukunft Klimasozial. Es weist auf die soziale Schieflage der bisherigen Klimapolitik hin. Bislang habe sich die Regierung vorwiegend auf die Bepreisung von Energie und CO2 sowie auf finanzielle Förderungen konzentriert. Diese hätten zwar zu einem deutlichen Rückgang der Emissionen geführt, allerdings benachteiligen sie, relativ betrachtet, Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Profitieren würden hingegen finanzstarke Bürgerinnen und Bürger. Fazit des Thesenpapiers: Eine soziale Klimapolitik schaffe Chancen für alle, eine Umsetzung wirke „in mehrfacher Hinsicht präventiv, gesundheits- und teilhabefördernd“.

Was sind die nächstmöglichen Schritte?

Unternehmen, Verbände und NGOs können sich jetzt für eine klare Orientierung am Green Deal aussprechen. Über 200 von ihnen, darunter zahlreiche Großkonzerne, haben das im Zusammenhang mit der Wahl in einem offenen Brief bereits getan. Darunter waren neben E.ON und Vattenfall auch etwa Unilever, Amazon, EasyJet und Ikea. „Ein Verlust der Rahmenbedingungen“, so warnten sie, „wäre ein schlechtes Signal an die Märkte, Investoren und Bürger, die auf ein stabiles politisches Handeln angewiesen sind.“

Am Ende ist Geld der größte Hebel. Es gilt, das EU-Budget der nächsten Jahre wirkungsorientiert so aufzustellen, dass die großen Herausforderungen auch abgebildet sind und konkret angegangen werden können. Am 27. und 28. Juni findet eine Tagung des Europäischen Rates statt, bei der sowohl die personelle Besetzung der wichtigsten Spitzenämter als auch die Verabschiedung der „Strategischen Agenda“ anstehen, also die Festlegung der Ziele der EU-Politik für die Jahre von 2024 bis 2029.

Die neue Kommission hat gleich große Aufgaben vor sich: die Klimapolitik ab 2031 fortzuschreiben, ein Klimaziel für 2040 zu verhandeln und Gesetzesvorschläge zur Änderung des Klimaschutzgesetzes vorzulegen.

Dabei hat die Kommission die Chance, mögliche Hindernisse durch Rechtsverschiebungen bei nationalen Wahlen etwa in Frankreich bestmöglich zu umschiffen. Beim für den Stopp des Biodiversitätsverlusts entscheidenden Nature Restoration Law ist bereits ein großer Schritt geschafft. Nach schwierigen Verhandlungen stimmte die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler letzte Woche für die Verabschiedung des Gesetzes – gegen den Willen von Bundeskanzler Karl Nehammer. Mutig. Die Verordnung sieht vor, 20 Prozent der Land- und Meeresflächen der EU zu schützen und die geschädigten Ökosysteme wiederherzustellen. Allerdings reichte die ÖVP eine Anzeige gegen Gewessler wegen mutmaßlichen Amtsmissbrauchs an.

Wie robust die Mehrheiten im Parlament für die sozial-ökologische Transformation im EU-Parlament wirklich sind, wird sich schnell zeigen. Die demokratischen Kräfte haben jetzt die Chance, voranzugehen und Narrative zu erneuern. Außerdem gilt es, die Themen Wettbewerbsfähigkeit, Industriestrategie und Weiterentwicklung des Green Deal zu kombinieren. Um diese Verbindung zu unterstreichen, wäre doch ein gemeinsamer Gipfel zum Auftakt der Legislatur sinnvoll – Themen: Wettbewerbsfähigkeit und Green Deal. Da gäbe es Bedarf.

Der UN-Generalsekretär António Guterres hat jüngst von „climate crunch time“ gesprochen. Es ist höchste Zeit zu handeln. Es gibt viel für uns alle zu gewinnen: eine sichere und lebenswerte Zukunft.

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